20. Juni 2025 – ICH ICH oder ICH DU? Was erfüllt uns wirklich?

Ein Klient stellte mir kürzlich eine nachdenkliche Frage:
„Sollte ich meinen Fokus vor allem auf mich selbst richten und nur für mein eigenes Wohl sorgen? Oder ist es wirklich verrückt, sich nach echten, tiefen Beziehungen zu anderen Menschen zu sehnen? Und warum ist letzteres so schwer?“

In einer Welt, die immer stärker von Egozentrik und Individualismus geprägt ist – und in der genau dieses Verhalten im Großen zu Konflikten und Kriegen führt –, stellt sich immer wieder eine zentrale Frage: Ist radikaler Eigennutz wirklich die höchste Tugend? Oder sind es die echten Begegnungen, bei denen wir uns selbst für den Anderen zurücknehmen, damit etwas entstehen kann, das über den individuellen Nutzen hinausgeht?

WAS ERFÜLLT UNS MEHR – die konsequente Ausrichtung auf das eigene Wohl oder Beziehungen, die tiefe Bindung zu anderen Menschen? Und wenn doch gerade Beziehungen unser Leben mit Sinn und Erfüllung füllen, warum fällt es uns so schwer, sie wirklich in den Mittelpunkt zu stellen?

Ein Erklärungsversuch

Ayn Rand veröffentlichte 1957 ihren philosophischen Gesellschaftsroman „Atlas Shrugged“ (deutsch: „Der Streik“), ein Werk, das radikalen Individualismus und Objektivismus verkörpert. Der Mensch ist eigenverantwortlich, strebt nach persönlichem Glück und begegnet anderen auf der Basis gegenseitigen Nutzens. Altruismus lehnt Rand entschieden ab – höchste Tugend ist für sie die Integrität und Selbstverwirklichung des Einzelnen. Der Roman wurde zum Bestseller: Insgesamt wurden über 10 Millionen Exemplare verkauft und die Auflagen steigen von Jahr zu Jahr, vor allem in den USA.

Martin Bubers philosophisches Hauptwerk „Ich und Du“ (1923) beschreibt hingegen die echte Begegnung zwischen Menschen als dialogische Beziehung. Zwei Subjekte begegnen sich auf Augenhöhe, anerkennen und respektieren einander als eigenständige, gleichwertige Gegenüber. Buber betont, dass wahre Menschlichkeit und Sinn nur im „Ich–Du“ möglich sind – erst im offenen, respektvollen Dialog wird der Mensch wirklich zum Menschen.

Als humanistisch geprägte Gestalttherapeutin sehe ich ICH-DU Beziehungen als das Fundament unseres Menschseins. Erst durch den tiefen Kontakt mit anderen werden wir wirklich lebendig und können unser wahres Potenzial entfalten. Beziehungen sind der Raum, in dem wir uns selbst erfahren, wachsen und heilen können. Sie geben uns Halt, Resonanz und das Gefühl, angenommen und wirklich geliebt zu sein – etwas, das kein materieller Besitz und keine Leistung ersetzen kann.

Gleichzeitig sind Beziehungen das Schwierigste und die größte Herausforderung unseres Lebens, weil sie uns auffordern, authentisch zu sein und uns mit all unseren Gefühlen, Bedürfnissen und Unsicherheiten zu zeigen. Das macht verletzlich und erfordert Mut. In der Begegnung mit dem Anderen werden wir immer wieder mit unseren eigenen Grenzen, Ängsten und alten Erfahrungen konfrontiert. Gerade deshalb ist die echte, lebendige Beziehung so heilsam – sie bietet die Möglichkeit, alte Muster zu erkennen und neue Wege zu gehen. Beziehungen sind das was wir am meisten brauchen und letztlich das einzige warme Gefühl von echtem Sinn.

Also ist die Antwort ist im Grunde ganz einfach: Wir fürchten uns vor echter Nähe. Egozentrik erscheint hingegen der einfachere Weg zu sein.

  • Es ist einfacher, Liebe durch Anerkennung seiner Leistungen zu suchen, als sich wirklich zu zeigen – mit allen Stärken und Schwächen. Doch tiefe Liebe findet man durch Leistung nie.
  • Es ist einfacher, sich durch Besitz und das Sammeln von Dingen wertvoll zu fühlen. Doch seinen wirklichen Wert wird man dadurch nie finden.
  • Es ist einfacher, sich durch Macht und Kontrolle wichtig zu fühlen. Doch wirklich wichtig für andere wird man dadurch nie.
  • Es ist einfacher, sich zu trennen oder den Kontakt abzubrechen, als sich einander immer wieder wirklich zu begegnen. Tiefe, erfüllende Beziehungen findet man so nie.

Sollte mich jemand fragen, ob ich lieber in einer Villa leben möchte – umgeben von allem erdenklichen Luxus, bedient von Angestellten, aber ohne eine einzige tiefe Beziehung –, oder ob ich stattdessen unter einer Brücke leben würde, in Kälte und Hunger, aber an der Seite eines geliebten Menschen, wäre meine Entscheidung klar: Ich würde die Brücke wählen.

Kein Reichtum, kein Komfort, keine Macht und keine Sicherheit können das ersetzen, was echte Verbindung an Sinn gibt. Tiefe Beziehungen sind Sinn. Ohne Menschen, denen ich mich nahe fühlen kann, bleibt selbst das mächtigste, erfolgreichste und reichste Leben leer.