Der Druck unserer modernen Gesellschaft, immer “gesund” und “funktionstüchtig” zu sein, führt dazu, dass tiefere, reflektierte und kritische Charakterzüge weniger geschätzt, entwickelt oder gelebt werden können. Die äußere Gesundheit und Leistung stehen über der inneren Entwicklung und der Charakterbildung.
Der Spruch “Der gesunde Mensch hat wenig Charakter” wird dem österreichischen Schriftsteller Christian Morgenstern zugeschrieben. Der Satz selbst spielt auf die Idee an, dass ein Mensch, der keine körperlichen oder seelischen Probleme hat, wenig Tiefgang oder Charakter entwickeln kann. Krankheiten, Leiden und Herausforderungen im Leben zwingen Menschen oft dazu, innere Stärke, Mitgefühl, Weisheit und andere Charaktereigenschaften zu entwickeln. Morgenstern betont damit die paradoxe Natur des menschlichen Lebens: Dass gerade das, was uns schwächt oder leidvoll ist, uns auch formt und stark macht, jedoch nur dann, wenn wir lernen, uns mit diesem Leid auseinanderzusetzen.
Hans Peter Dreitzel, ein Soziologe, Philosoph und Gestalttherapeut, der sich in seinen Werken mit der menschlichen Existenz und der sozialen Realität auseinandersetzt, interpretiert diesen Spruch auf eine ähnliche Weise. Dreitzel weist auf die Beziehung zwischen persönlicher Entwicklung und Herausforderungen hin und betont, dass soziale und individuelle Schwierigkeiten oft als notwendige Bedingungen für die Entwicklung eines starken und vielschichtigen Charakters angesehen werden. Ein “gesunder” Mensch, der in diesem Kontext frei von Problemen und Konflikten ist, wird als jemand betrachtet, der weniger Anlass hatte, tiefgreifende persönliche oder moralische Eigenschaften zu entwickeln.
Wahre Lebendigkeit entsteht durch das Überwinden von Widrigkeiten und inneren Kämpfen und sehr viel weniger durch äußere Gesundheit und Höchstleistung.